5 Gründe, warum das Netflix-System für Verlage nicht funktionieren kann

Dienstag, 24. September 2019 erschien bei HORIZONT Online folgender Beitrag (auch unter diesem Link zu finden)

Am 18. September 2019 erschien bei HORIZONT Online der Beitrag "Warum sich die Verlage mit gemeinsamen Flatrate-Angeboten so schwer tun". In diesem legt G+J-Digitalchef Arne Wolter anderen Verlagen "die Idee einer offenen Plattform" für Presseprodukte und deren Teilnahme nahe.

Ich würde für die im Artikel erwähnten 10 Euro im Monat sofort ein Titel-übergreifendes Abo abschließen. Allerdings befürchte ich, dass sich auf diesem Preisniveau das Geschäftsmodell für keinen der beteiligten Verlage rechnen wird. Hier fünf Gründe, warum Verlage nicht an einer verlagsübergreifenden Plattform teilnehmen sollten.


1. Verlust der direkten Kundenbeziehung

Verlage sollten das wichtigste, was sie besitzen – nämlich ihre Kundenbeziehung – nicht an eine Plattform abgeben. Sei es aus Gründen der Kundenzentrierung (die eigenen Leser besser kennenzulernen, zu verstehen und auf ihre Bedürfnisse einzugehen), sich die Möglichkeit zu nehmen, auf den eigenen Seiten wichtige Daten zu analysieren, oder weil die Kommunikation mit den eigenen Lesern eher zunehmen sollte, als dass man sie durch einen Intermediär erschwert. Dass D2C-/B2C-Modelle in anderen Branchen funktionieren und erfolgreich sein können, zeigen Beispiele wie das Betten-Startup Casper oder der "Dollar Shave Club".

2. Preishoheit behalten

Kaum ein Leser analysiert den Preis eines Presseproduktes rational. Warum kosten 25 Seiten Handelsblatt 3,10 Euro, der Spiegel 5,10 Euro, die Gala 3,70 Euro und manche Fachzeitschrift 25 Euro und mehr? Umso mehr spielen die Marke und emotionale Aspekte wie etwa Vertrauen und Erwartungen an die Redaktion eine wichtige Rolle. Keine der Facetten einer Preisstrategie darf in so einer Kundenbeziehung durch eine dritte Plattform eingeschränkt werden. Nicht umsonst sprechen wir von "Qualitätsjournalismus", der auch seinen Preis haben soll.

3. Nicht in die Kommodifizierungsfalle begeben

Nach welchen Kriterien sollen Verlage an den Erlösen der Plattform beteiligt werden? Impressions? Leseminuten? Anzahl gelesener Worte? Werden aufwendig recherchierte Artikel besser vergütet als übliche Beiträge? Mir scheint keine dieser Alternative eine gesunde Vergütungsgrundlage darzustellen.

4. Gesellschaftliches Risiko

Die Presse verliert ihre Gatekeeper-Funktion (welche Informationen sind veröffentlichungswürdig?). In Zeiten von Informationsüberfluss spielt die Kurator-Funktion durch die Redaktion eine meines Erachtens noch unterschätzte Rolle. In Zeiten von durch Filterblasen durchzogenen sozialen Kanälen sind datenbasierte Empfehlungen wie Playlisten und Top-50 Artikel der falsche Ansatz. Eine vertrauenswürdige Presse ist heute mehr denn je das Immunsystem einer funktionierenden Demokratie. Die Frage, die vorab von einer verlagsübergreifenden Plattform beantwortet werden müsste: Nach welchen Kriterien werden Artikel empfohlen? Die Algorithmus-Diskussion stand bereits bei Facebook im Raum. Nun schaffen die Verlage sie sich selbst.

5. Wollen die Mehrheit der Nutzer wirklich eine verlagsübergreifende Plattform?

Es gibt Sie längst: Blendle (seit 2014), iKiosk (seit 2011 für andere Verlage offen), Readly (2014), Inkl (2014) Pocketstory (2013). Und einige sind bereits verschwunden (Texture, Pubbles). Bisher hat keiner der Anbieter auch nur annähernd die Masse an zahlenden Nutzern wie Spotify und Netflix gewinnen können. Sind die zahlungsbereiten Leser mit ihren aktuellen Titel-Abonnements gegebenenfalls zufrieden? Vielleicht haben Spiegel-Leser nicht darauf gewartet, auch Bild, Bunte oder "Fisch & Fang" lesen zu können und dafür zu bezahlen?

Und ein Gedanke zur Zukunft: Während Netflix inzwischen eigene Filme/Serien produziert und Spotify vorbei an Labels Verträge mit Kreativen abschließt: Wäre es nicht überraschend und für Verlage bedenklich, dass eine Plattform in Zukunft nicht auch eigene Inhalte veröffentlicht?

Wie aber könnte die Zukunft des digitalen Pressekonsums aussehen?

Nach der Übergangsphase in die digitale Welt sind für die meisten Verlage die Kleinanzeigen als wichtige Erlösquelle verloren gegangen, waren digitale Abos fast zwei Jahrzehnte lang kaum vorhanden, und die Erträge aus dem Einzelhandel als auch der Werbung entwickeln sich rückläufig. Aus dieser Entwicklung ergeben sich meines Erachtens zwei Aufgaben: Erstens muss alles dafür getan werden, dass die Leser digitale Abos akzeptieren. Zweitens müssen die Verlage einen Weg finden, wie sich Gelegenheitsleser im Internet monetarisieren lassen.

Statt auf eine verlagsübergreifende Vertriebsplattform zu setzen, möchte ich zwei Ideen vorschlagen:

1. Un-Bundling bzw. Re-Bundling der Inhalte. Den Verlagen stehen hier unendlich viele kreative Möglichkeiten offen, indem sie ganz neue Produkte erschaffen, statt Artikel in Tages-, Wochen- oder Monatsausgaben zu bündeln.

2. Viel mehr auf die Bedürfnisse der Leser eingehen. Sowohl im Abo- als auch digitalen Gelegenheitsleserbereich heißt es oft "pay or leave". Auch hier eröffnen sich viele Möglichkeiten, den Kunden neue Optionen anzubieten. Insbesondere auch wenn man die Nutzer "un"freundlichen Anmelde- oder Bezahl-Vorgänge erlebt. Diese Aufgaben und Vorschläge sind nicht auf Deutschland beschränkt – sie gelten international.

Der Vorstoß von G+J ist bestimmt auch als Gegenmaßnahme zu den Einführungen von Apple News und Facebook News zu verstehen. Ich befürchte, sich mit einem Wettbewerbsprodukt gegen diese Konzerne aufzustellen, hat wenig Aussicht auf Erfolg. Aber zu den zwei oben erwähnten Vorschlägen gibt es weltweit nur erste Versuche. Die deutsche Verlagsbranche ist weltweit anerkannt. Wäre es nicht toll, wenn neue erfolgreiche Produkte und Erfindungen aus Deutschland stammen?